Al Bar

In der Bar Pasticceria Salza standen zwei alte Männer, beide den einen Fuß hinter dem anderen, einen Arm lässig an dem dunklen Holztresen gestützt. Sie diskutierten über die Fußballergebnisse mit einem der Barmänner in Uniform. Ein anderer Angestellter bediente hinter den riesigen Auslagen an Törtchen, Bomboloni, Cannoli, Cornetti und Eis. An der Kaffeemaschine stand Zaras Lieblingsbarfrau. „Macchiato?“, fragte sie, Zara nickte. Johannes nahm das Gleiche. An den Tischen saß bloß ein Pärchen, das leise tuschelte. Zaras Magen war blockiert. Auf Cornetti hatte sie keinen Appetit mehr. Ruth war verschwunden. Auch am Handy antwortete sie nicht.

„Musst du jetzt gleich los?“, fragte Zara.

„Ich schreibe Annette eine Nachricht.“

„Ci sediamo“, rief Zara der Barfrau zu. Den altmodischen Saal mit der dunklen Holzverkleidung, den knopfgepolsterten Wandbänken und den kleinen Tischen davor mochte sie. Der dunkle Ton verlieh der Bar ein edles Flair. Johannes begutachtete die Drucke an der Wand, Ansichten der Stadt. „Diese Bar ist eine Institution“, sagte Zara und setzte sich auf eine Bank.

Die Bedienung brachte die zwei Espresso mit Milchschaum in Herzform. Johannes zog seinen durchnässten Baumwollpullover aus. Darunter trug er ein schniekes hellblaues Hemd.

Als er sich Zara gegenübersetzte, bemerkte sie in seinem Gesicht zwei symmetrische Falten, Denkerlinien, die von seiner Nase bis zu den Schläfen führten.

„Du ähnelst deiner Mutter“, sagte er.

Zara tat so, als hätte sie es nicht gehört.

„Sag mal, hattest du eigentlich mal was mit Ruth?“

Johannes nippte an seinem Caffè und stellte die Tasse wieder auf die Untertasse. Zara hörte das leise Klirren des Porzellans.

„Nur für kurze Zeit.“

„Wie kurz?“

„Ruth war mal zu uns in die Kommune in den Taunus gekommen, als sie sich mit Reinhard gestritten hatte. Ich hatte sie getröstet. Sie ist …“, er kratzte sich an seinen dünnen, strubbeligen Haaren, „ungefähr eine Woche geblieben.“

„Da war ich doch dabei. Ein paar Jahre bevor Reinhard verschwand.“ Das Wort „verschwand“ hörte sich in Beziehung zu Reinhard ungewohnt an.

„Ja, stimmt, das war kurz, bevor ich Annette kennengelernt habe.“

Draußen donnerte es. Eine Menschengruppe sammelte sich unter der Arkade am Eingang der Bar. Man hörte den Regen auf den Asphalt klatschen. Die Bar füllte sich, das Regengeräusch mischte sich mit den lauten Stimmen der Kunden. „Tempo di merda“, hörte Zara und „tempaccio“, auch „Maremma maiala“. Die Leute drängten sich am Tresen. Kaffeemühlengeräusche und das Abschlagen der Kaffeesiebe.

Aus: Lisei Luftvogel, der Doppel-Schreier, Roman

Parallelwelten

„Johannes hat recht, lass uns in eine Bar gehen“, wandte Ruth ein.

„Ich gehe jetzt in keine Bar und ihr bleibt hier! Wovor habt ihr denn Angst, vor Jesus? Bei dem Wetter kommt hier sowieso keiner rein. Draußen ist alles voller Schlamm.“

Ruth atmete laut. „Kannst du dich erinnern, als ich dir an der Beerdigung erklären wollte, dass er in einer anderen Ebene lebt?“

„In einer anderen Ebene? Das hat sich nach religiösem Zeugs angehört. Mein Gott! Buddhistische Reinkarnation oder so. Er war doch in Tibet gewesen.“ Zara blickte zu Johannes. „Und von einer bescheuerten Versuchskatze hat sie mir auch erzählt, eine, die zugleich lebt und tot ist.“

„Schrödinger“, sagte Ruth.

Johannes stand in der jetzt von Licht durchfluteten Pforte. „Schrödinger?“, fragte er halblaut.

„Ja genau, Schrödinger. Weißt du Ruth, wie lange ich mir damit den Kopf zerbrochen habe. Diese Geschichte der anderen Ebene. Wieso sollte Syrien eine andere Ebene sein, oder Indien?“

„Weil es Ebenen gab, von denen man besser nichts wusste. Mitwissen ist nicht immer ungefährlich. Reinhard war da in was reingerutscht. Ich wollte damit nichts zu tun haben und musste dich schützen.“

Johannes nickte. „Ich bin nach dem Massaker von Sabra und Schatila aus der Kriegsreportage ausgestiegen. Das hat mich fertig gemacht. Die Albträume haben mich geplagt. Manchmal habe ich immer noch welche. Es hat ewig gedauert, bis ich wieder ein normales Leben führen konnte.“

Zara sah zum angeleuchteten Johannes. „Was hat das mit den Ebenen und gefährlichem Mitwissen zu tun?“

„Das versteht man nur, wenn man es selbst miterlebt. Ich wollte da nicht weiter reinrutschen.“

aus: Lisei Luftvogel, Der Doppel-Schreier, Roman

Mauerfall

Täglicher Schreibanreiz
An welche wichtigen historischen Ereignisse erinnerst du dich?

Ich erinnere mich an den Fall der Mauer. Ich war achtzehn und verliebt, aber mein Angehimmelter wollte mich nicht. Ich betrank mich bei ihm zu Hause mit Tequilla. Die Nacht als die Mauer fiel, habe ich furchtbar gekotzt. Am nächsten Tag ging der Radiowecker mit der Nachricht an: „die Mauer ist auf!“, ich dachte ich sei immer noch besoffen.

Der Doppel-Schreier, mein neuer Roman ist fertig

Hier das Fragment eines Schreis:

Paul Klee, ein Doppel-Schreier, 1939

„WAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAS?“, Zara schrie so laut, dass es durch die ganze Kuppel hallte. Die Wände drehten sich. Sie legte die Hände auf den Kopf. Die Kolonnen drehten schneller. Der Fußboden sah aus wie Spinnweben. Sie zog den Kopf nach hinten und schrie weiter in Richtung ockerfarbener Kuppel. Die schwarz-weißen Säulen drehten sich, sie drehten sich, sie drehten sich. Zara schrie, sie schrie wie der Schrei von Munch. Das Bild hatte ihr als Kind Angst gemacht. Jetzt war sie selbst dieser Schrei. Schrei. Schrei. Schrei. Uaaaaaaaaaaaaaah. Ruth klebte ihr eine. Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Zara Ruth an und schlug sie zurück. Ruth taumelte leicht. Johannes machte ein paar Schritte rückwärts in Richtung Ausgang. Die Wände rotierten nicht mehr. „Du bleibst hier“, schrie Zara Johannes an. „Ja“, sagte er leise. „Das geht hier alle an, nicht nur Ruth und mich. Komm bitte rein.“

Ruth setzte sich jenseits der Absperrung auf die Marmorstufen des Taufbeckens und begann zu weinen. Johannes nahm neben ihr Platz und streichelte ihr den Rücken.

„Johannes! Was hast du gesagt?“ Zaras Stimme war rau geworden.

Stille. Eine Minute Stille. Nur Ruths Schluchzen war zu hören, sie putzte sich die Nase.

„Ich habe Reinhard in einer Eisdiele in Damaskus getroffen.“

„Sag mal, spinnst du?“

„Wie?“

„Reinhard lebt? RUTH! Ihr seid doch alle bescheuert. Was geht hier ab?“

Johannes blickte hilfesuchend zu Ruth.

„Lass uns in Ruhe darüber sprechen“, sagte Ruth mit gebrochener Stimme.

„Du spinnst doch total. Die Beerdigung war gar nicht echt?“

„Was für eine Beerdigung?“, fragte Johannes.

„Wusstest du davon gar nichts?“, schrie Zara.

„Ich? Nein. Was für eine Beerdigung?“

„Seiner Lederjacke“, sagte Ruth leise.

„Ich habe geglaubt, er sei tot, du weißt das, Ruth.“

„O Mann, Scheiße“, sagte Johannes.

Was Jesus mit Esspapier zu tun hat

aus Lisei Luftvogel, Anti

Nach meinen Fragen über die Hölle brachte mich Dora in die Kirche am Stoppenberger Markt. Sie wollte mich über einige Dinge aufklären. Dort war es dunkel und roch komisch. Dora zeigte mir die schönen bunten Fenster, doch mein Blick blieb an dem knochigen Mann am Kreuz hängen. Er war bis auf die Unterhose nackt. „Ist das Jesus?“, fragte ich. Dora legte den Finger auf den Mund und nickte. Warum sie flüsterte, verstand ich nicht. Niemand schlief. Dora schlich tiefer in die Kirche hinein.
„Lass uns lieber wieder gehen“, sagte ich.
„Warte noch ein bisschen“, sagte Dora.
„Es ist hier aber gruselig.“
„Ach was, in die Geisterbahn gehst du doch auch. Reiß dich zusammen. Schaffst du das?“
„Ja.“
Eine alte Frau betrat die Kirche, hielt ihre Finger in einen großen Steintopf am Eingang und machte eine seltsame Bewegung. „Was macht die Frau?“
„Sie bekreuzigt sich.“
„Warum?“
„Das macht man hier so.“
„Du hast es aber nicht getan.“
„Nein.“
„Jetzt will ich wirklich gehen.“ Ich zog Dora am Ärmel.
„Jesus war Jude“, sagte Dora, als wir zum Auto gingen.
„Ist er deswegen am Kreuz?“
„Nein, er war ein Revolutionär.“
„Wie die Teufel?“
Dora lachte. „Vielleicht.“
„Kommt Aljoschas Vater auch ans Kreuz?“
Dora schüttelte den Kopf.
„Nein. Das wird schon lange nicht mehr so gemacht. Das war bei den Römern vor 2000 Jahren. Aljoschas Vater sitzt bloß im Gefängnis.“
Ich atmete auf. Trotzdem ließ es einen bitteren Beigeschmack in mir zurück. Das „bloß im Gefängnis“ war sicher nicht so harmlos, wie Dora es mir weismachen wollte. Ich wusste, dass sie mir Dinge vorenthielt, weil ich noch ein Kind war. Je älter ich wurde, desto mehr erzählte sie mir, aber nie alles.
Dieter erzählte mir von seiner Kindheit. Er wurde gezwungen, in die Kirche zu gehen. Die Kirche und die Schule waren früher sehr gefährlich. Der Lehrer schlug Dieter mit dem Stock auf die Hände. Das gehörte damals zur Erziehung. Auch seine Mutter, unsere Oma schlug ihn. Der Priester machte ihm Angst mit der Hölle. Dieter sagte, der Priester drohte mit der Hölle, damit er Geld bekam. Wenn man bezahlte, kam man nicht in die Hölle. Verbrecher, sagte Dieter. Sich einen Platz im Paradies zu kaufen, sei nicht möglich.

An einem Sonntag bestand Dora darauf, mit mir in den Gottesdienst zu gehen, den viele meiner Klassenkameraden besuchten. Damit ich sie besser verstehe, meinte Dora. Jo wollte mit. Dora sagte, es sei nur was für Große. Das überzeugte mich. Dora hatte als Kind gerne in der Kirche gesungen, außerdem wurde dort Orgel gespielt. „Hättest du deine Geschichten nicht später erzählen können“, zischte sie Dieter an. Mit gemischten Gefühlen folgte ich Dora zum Gottesdienst an der Kirche am Katernberger Bahnhof. Auch hier roch es komisch und wieder hing dort so ein leidender Jesus. Warum mussten in den Kirchen solche leidenden Skulpturen hängen, fragte ich mich. Sicher hatte Dieter recht. Wieder legte Dora den Finger auf den Mund. Ich beobachtete, wie die Leute Zeichen vor sich hinfuchtelten, als sie die Kirche betraten. Nur Dora machte das nicht. Vorne stand ein schwarz gekleideter Mann am Pult. „Ist das ein Zauberer?“, fragte ich Dora. „Ein Priester“, flüsterte sie. Mir war kalt, die Bank war hart und die Rede des Schwarzgekleideten todlangweilig. Dann sah ich Mark. Er stellte sich neben den schwarzen Mann. Ich winkte ihm. Dora legte eine Hand auf mein Bein. „Er kann dir jetzt nicht antworten.“ Mark sah eigenartig aus. Der Priester sprach vom Leib Christi. Vielleicht hatte er Mark verzaubert.
„Was ist ein Leib?“
„Ein Körper“, flüsterte Dora.
Ein anderer Junge brachte dem Priester eine Schale. Wahrscheinlich mit dem Körper von Christi. Der Priester nahm die Schale an sich.
„Warum essen die Menschen Christi?“, fragte ich.
Dora lachte leise. „Das ist nur Esspapier. Jesus ist schon lange tot.“
„Dann ist der Mann da vorne ein Lügner?“ Jemand drehte sich zu uns um.
„Sei leise“, flüsterte Dora.
Mark bekam Esspapier von dem Mann in Schwarz auf die Zunge gelegt. Es war nicht der Körper von Christi.
„Lass uns gehen Dora, ich will hier nicht mehr sein.“
Draußen vor der Tür strich mir Dora über die Haare. Die Sonne schien mir ins Gesicht. In den Bäumen raschelte leicht der Wind. „Komm, wir gehen ein Eis essen,“ sagte Dora und nahm meine Hand. Wir liefen unter der Eisenbahnunterführung durch zum Katernberger Markt.
„Dora?“
„Ja.“
„Ich möchte nie mehr in die Kirche.“
„Manchmal gibt es Dinge, die man aushalten muss“, sagte sie.
„In die Kirche will ich aber nicht mehr.“

Ich träumte, wie das Esspapier aus getrockneten Jesuskörpern hergestellt wurde. Erst waren es Menschen, dann wurde ihre Haut so trocken, dass sie braun wurde. Die getrockneten Jesuskörper wurden an Kreuze gehängt und in Kirchen gebracht. Nachdem sie lange genug dort gehangen hatten, wurden sie von schwarz gekleideten Zauberern abgenommen. Sie schnitten sie in dünne Scheiben mit einer Maschine, wie sie der Metzger für die Wurst benutzte. Ein Zauberer verlangte von mir, den getrockneten Jesus zu essen. Ich schrie. Dieter rettete mich. Ich hörte seine Stimme über mir. Er rüttelte mich wach. Das Esspapier an der Bude kaufte ich nicht mehr.

Remember…

Rezension von Michael Blum

Mit ihrem Erstling „Anti“ ist Lisei Luftvogel ein kleines Wunder gelungen – sie hat mich auf etwas über 100 Seiten für Stunden in eine lang zurückliegende Zeit zurückversetzt – in meine Kindheit mit starren, autoritären Schul- und Familiensystemen, gegen die ich erst später rebelliert habe… die Hauptfigur Maja hingegen bereits in jungen Jahren. Aus Majas Perspektive heraus durfte ich miterleben, was es heißt in einer Kommune mit wechselnden Mitbewohnern und Partnern groß zu werden, die Kindheit in einem Gegenentwurf zur klassischen Kleinfamilie zu durchleben, wo die goße Freiheit immer auch an der Grenze zur Vernachlässigung verortet ist; wo sich studentisches Leben und Protestkultur neben Arbeiterschaft und bürgerlichen Werten ereignen. Und das Ganze angesiedelt im Ruhrpott, in Essen-Katernberg… ein Stadtteil, den es gleichnamig auch in Wuppertal gibt. Ich durfte miterleben, welche Bedeutung Freundschaft hat und wie wichtig es war, einer Gruppe zuzugehören, um ‚Feinde‘ (die aus der anderen Straße o.ä.) abzuwehren. Lisei Luftvogel geht es in „Anti“ nicht um eine stringente Handlung, vielmehr zeichnet sie das Bild einer vergangenen Zeit und ihre Protagonist:innen wären heute wohl diejenigen, die sich langsam auf die nachberufliche Phase zubewegen und sich dann fragen werden, wo sie denn geblieben ist, die Zeit. Auch ich als Babyboomer frage mich das oft – und „Anti“ hat es geschafft, mir die fast schon vergessene Zeit zurückzuholen. Danke dafür! Unbedingte Leseempfehlung!!!