Zara auf der Suche

Rezension von Sabine Winkler

Themenreich, intensiv, einnehmend. Ich bin froh, dieses Highlight durch eine Leserunde kennengelernt zu haben.

Zara erfährt zufällig, dass ihr Vater Reinhard 1985 gar nicht bei einem Motoradunfall in Indien gestorben ist. Gleich einer Schnitzeljagd führt die Spur 2008 von Pisa und Berlin zunächst nach Damaskus, wo sich der Kriegsreporter aufhalten soll, und weiter nach Aleppo und Beirut. Im Nahen Osten trifft Zara immer wieder auf hilfreiche Menschen, mit denen sie in die Sprache und Kultur eintaucht. Gleichzeitig stellt sie sich Gerüchten und Halbwahrheiten über die Vergangenheit ihres Vaters: War er Kriegsreporter oder sogar in bewaffnete Konflikte verstrickt? 

Der „Der Doppel-Schreier“ behandelt vielfältige Themen wie Liebe, Freundschaft und Familie, aber auch Generationskonflikte, kulturelle Missverständnisse, ideologische Blendungen und deren Folgen. 

Der Titel des Buches wiederholt sich im Cover, auf dem das gleichnamige Bild von Paul Klee abgebildet ist, und dessen Thema – auch im übertragenen Sinn – sich durch das gesamte Buch zieht. Die Roadstory besteht aus vier Teilen, an deren Anfang immer ein Bild oder der Ausschnitt einer Landkarte bei der Orientierung hilft. Der Schreibstil ist bildhaft und voller Leben; man meint sogar die Hitze und die Gerüche der labyrinthischen Altstädte Syriens beim Lesen selbst zu spüren. 

Auch Zara und die anderen Charaktere sind sehr lebensecht gezeichnet und es fällt meist leicht, ihr Verhalten zu verstehen und ihr Tun nachzuvollziehen. Doch es sind nicht nur diese intensiven Beschreibungen, die das Buch so faszinierend machen. Zaras Reise besteht auch nicht nur aus einer tatsächlichen Bewegung von A nach B. Es geht vor allem auch um die Erarbeitung von politischen Konstellationen und Konflikten des Nahen Ostens, auch um die kulturellen Unterschiede und Besonderheiten, sowie um die Kunst des Orients; eigentlich allgemein um die Konfrontation mit anderen Kulturen und die verschiedenen Wertvorstellungen, darunter auch um die Stellung der Frau. Die Autorin wirft immer wieder auch philosophische Fragen auf, die Zara in den Gesprächen mit ihren Freunden vertieft, deren Beantwortung aber großteils bei den Lesern und ihren Gedanken darüber bleiben. Das Buch ist daher sicher keine Lektüre, die man einfach so nebenher lesen kann – oder überhaupt möchte, denn das Interesse daran entsteht wie von selbst durch eine Art Sogwirkung, die von der Geschichte auszugehen scheint. 

Und diese Geschichte verdient es daher, sich als Leser ausgiebig damit zu beschäftigen. Die vielfältigen Themen, die eingestreuten Musiktitel, die man Dank heutiger Technik sehr gut parallel beim Lesen mithören kann, die politischen Gegebenheiten der Gegenwart – oder eigentlich des Jahres 2008, in dem diese Reise erfolgte – deren Wurzeln in den Erinnerungen an Zaras Kindheit erläutert werden und nicht zuletzt Zaras ganz persönliche Geschichte – all diese Aspekte machen den Roman zu einem außergewöhnlichen und absolut lesenswertem Buch, das man sicherlich gerne auch öfter lesen möchte. 

Remember…

Rezension von Michael Blum

Mit ihrem Erstling „Anti“ ist Lisei Luftvogel ein kleines Wunder gelungen – sie hat mich auf etwas über 100 Seiten für Stunden in eine lang zurückliegende Zeit zurückversetzt – in meine Kindheit mit starren, autoritären Schul- und Familiensystemen, gegen die ich erst später rebelliert habe… die Hauptfigur Maja hingegen bereits in jungen Jahren. Aus Majas Perspektive heraus durfte ich miterleben, was es heißt in einer Kommune mit wechselnden Mitbewohnern und Partnern groß zu werden, die Kindheit in einem Gegenentwurf zur klassischen Kleinfamilie zu durchleben, wo die goße Freiheit immer auch an der Grenze zur Vernachlässigung verortet ist; wo sich studentisches Leben und Protestkultur neben Arbeiterschaft und bürgerlichen Werten ereignen. Und das Ganze angesiedelt im Ruhrpott, in Essen-Katernberg… ein Stadtteil, den es gleichnamig auch in Wuppertal gibt. Ich durfte miterleben, welche Bedeutung Freundschaft hat und wie wichtig es war, einer Gruppe zuzugehören, um ‚Feinde‘ (die aus der anderen Straße o.ä.) abzuwehren. Lisei Luftvogel geht es in „Anti“ nicht um eine stringente Handlung, vielmehr zeichnet sie das Bild einer vergangenen Zeit und ihre Protagonist:innen wären heute wohl diejenigen, die sich langsam auf die nachberufliche Phase zubewegen und sich dann fragen werden, wo sie denn geblieben ist, die Zeit. Auch ich als Babyboomer frage mich das oft – und „Anti“ hat es geschafft, mir die fast schon vergessene Zeit zurückzuholen. Danke dafür! Unbedingte Leseempfehlung!!!

Mit Kreativität die Angst überwinden

Ausflug in eine Kindheit – Rezension

von Birgit Spaeth.

Kinder haben nicht selten ein geradezu brutales Alltagsleben. „Anti“, das Erstlingswerk von Lisei Luftvogel berichtet aber nicht von Gewalt gegen Kinder, sondern vielmehr zwischen ihnen. In fein beobachteten Miniaturen erzählt die Autorin aus Kindersicht von den Bewährungskämpfen auf dem Schulhof,  auf der Straße, im Hort und – ja – auch in der Familie. Die besteht hier allerdings nicht aus Vater, Mutter, Kindern, sondern aus wechselnden mehr oder weniger großen Wohngemeinschaften. „Anti“ steht für antibürgerlich – und das sind fast alle Figuren des Romans, so etwa der etwas ältere Beschützer der Schulanfängerin und Protagonistin Maja, ein Romajunge, die antiautoritären Erzieherinnen und Erzieher im Hort, die Antifa-Eltern sowie fast deren gesamtes soziales Umfeld.

Atemlos eilt dieser kurze Roman durch zwei Jahre Kinderleben. Ohne erzählerischen Abstand zu halten, reißt die Autorin eine Fülle von erlebten kleinen und kleinsten, aber auch größeren Ereignissen an. Sie schöpft aus einer sprudelnden Quelle von wichtigen Themen, die zum „Großwerden“ gehören: die kreativen Spiele und Kämpfe drinnen und draußen, Ängste im Umgang mit Autoritäten sowie den Phantasien, sie beherrschbar zu machen, erwachende und verebbende Freundschaften, kindliche Sexualität, Glaube und der frühe Beginn politischen Denkens. In der Auseinandersetzung scheint immer wieder die Frage auf: Bin ich ok – so anti, wie ich bin? Beim Lesen bleibt kaum Zeit zum Innehalten. Der Erzählfluss ist so mitreißend, dass man sich eine Fortsetzung wünscht.


Die Autorin Lisei Luftvogel wurde 1971 in Essen geboren. Sie lebt und arbeitet heute in Ferrara (Italien) als Deutsch- und Feldenkrais-Lehrerin. 2021 absolvierte sie einen Kurs für kreatives Schreiben bei der Textmanufaktur, in dem die Idee für diesen Erstlingsroman entstand.

Daten zum Buch:
Lisei Luftvogel: Anti
Tredition Publishing
Hardcover
120 Seiten
20 Euro
Erscheinungsdatum 1.Mai 2023
ISBN 978-3-347-87791-7